The Making Of - LYCIA
(*English version below)
Künstler: Christian Dörge.
Album-Titel: Lycia.
Format: Album-CD.
Aufgenommen von Dezember 1992 bis Januar 1993.
Tonstudios: Sonic-Delirium-Studio, Basel (Schweiz)/Danse Macabre-Studio, Bayreuth (Deutschland).
Besetzung: Christian Dörge (piano, synthesizers, programmings), Oswald Henke (vocals), Tilo Wolff (vocals, programmings), Troy (guitars, programming), Kevin Lancashire (programming).
Produziert von: Christian Dörge.
Toningenieure: Bruno Kramm, Kevin Lancashire.
Abgemischt von: Christian Dörge.
Veröffentlicht: August 1993.
Plattenfirma: Hall Of Sermon/Deathwish Office/SPV.
Tracks:
1. Introduktion: Süße der Sünden
2. Der Satyr
3. Lycia I
4. Lycia II
5. Die Kirche
6. Weltschmerz
7. Sekretkelch
8. Kriegsvögel
9. Mystische Rosenmadonna
Bonus-Tracks 30th ANNIVERSARY EDITION:
10. Der Satyr – Version 2 (Rough-Mix)
11. Lycia I (Rough-Mix)
12. Sekretkelch (Rough Mix)
13. Lycia II (Rough-Mix)
14. Lycia I (Instrumental-Demo)
Über kaum ein deutsches Gothic-/Dark-Wave-Album ist seit 1992 so viel geschrieben worden wie über mein zweites Album Lycia, und das Ausmaß an schlichtem Unsinn, welches in der einschlägigen Presse veröffentlicht wurde (und absurderweise noch immer veröffentlicht wird), spottet buchstäblich jeder Beschreibung. Dies hat seinen Ursprung weniger in besagtem Album oder gar in dessen künstlerischem Kern selbst, als vielmehr in dem ebenso illustren wie einzigartigen Line-up. Uns – heißt: Oswald Henke, Tilo Wolff und mir – war gemein, dass wir junge aufstrebende Künstler waren, wir befanden uns gewissermaßen in unserer Sturm-und-Drang-Phase, und es lag von Beginn an die Vermutung nahe, dass die Aufnahmen zu Lycia zu einem Wettstreit unserer Egos werden würden: die beste aller Voraussetzungen, die schlechteste aller Voraussetzungen. Und für mich an dieser Stelle (und im Jahr 2022) eine Gelegenheit, die Dinge ins richtige Licht (meiner Wahrnehmung) zu setzen.
1992 hatte ich mein erstes Album Anonymous aufgenommen, und meine Plattenfirma war alles andere als begeistert. »Viel zu künstlerisch!«, monierte man. »Das will außer auf der Documenta niemand hören«, schloss man. Naturgemäß unterschied sich meine Sichtweise auf mein – minimalistisches, Industrial-affines, geradezu unangenehm düsteres – Album erheblich von dem, was die Plattenfirma einzuwenden hatte, und daher beschloss ich, Anonymous im Signum-Verlag zu veröffentlichen, was mir jede Menge Diskussionen ersparte und phantastische Kritiken einbrachte.
Dennoch war klar: Album No. 2 sollte etwas völlig anderes werden: Im Kern musste es wieder eine Literaturvertonung werden, aber ich wollte einen Schritt weitergehen – ich hatte die Idee, das neue Album als eine Art Theaterstück zu schreiben und die unterschiedlichen Rollen eben auch von unterschiedlichen Personen interpretieren zu lassen. Künstlerisch reizvoll, menschlich ein Wagnis.
Damals – im Spätsommer 1992 – trieb ich mich recht intensiv in der erblühenden deutschen (und deutschsprachigen) Dark-Wave- und Gothic-Szene herum (wohl auch deshalb, weil ich für das Magazin Kodex schrieb, und dieses Magazin bildete einen entsprechenden thematischen Schwerpunkt ab), und so kamen mir bei der Besetzung der Rollen Tilo Wolff (er hatte 1992 sein zweites LACRIMOSA-Album veröffentlicht) und Oswald Henke (der mit seinem Projekt GOETHES ERBEN zu diesem Zeitpunkt bereits drei Alben veröffentlicht hatte) in den Sinn. Eine naheliegende Wahl: Beide waren wie geschaffen für das, was mir als Ergebnis vorschwebte.
In den folgenden Wochen wurde viel hin und her telefoniert, und Tilo, Oswald und ich kamen überein, es künstlerisch für ein Album miteinander zu versuchen. Zusätzlich holte ich den Gitarristen Troy (von der deutschen Gothic-Rock-Band CATASTROPHE BALLET) an Bord, einen ganz ausgezeichneten Musiker, dem das Album Lycia enorm viel verdankt.
Ich schrieb die Texte – sofern ich mich recht entsinne – für das Album an einem einzigen Abend des Septembers 1992, und die Art und Weise, in der Lycia durch diese Texte Gestalt annahm hatte etwas geradezu Magisches. Kein Zweifel, hier entstand ein künstlerisch relevantes Werk, daran bestand für mich nicht der geringste Zweifel.
Von Beginn an war klar: Wir würden das Album in zwei Tonstudios aufnehmen – im Danse-Macabre-Studio in Bayreuth/Deutschland wurden die Songs, denen Oswald seine Stimme lieh, aufgenommen, im Sonic-Delirium-Studio in Basel/Schweiz stand Tilo am Mikrophon. So effektiv und in vielerlei Hinsicht sinnvoll dieser Arbeitsweise auch war, sie führte auch zu der Situation, dass sich Tilo und Oswald – die mit ihren Stimmen Lycia jeweils auf ganz eigene, hervorragende Weise prägten – zu keinem Zeitpunkt der Aufnahmen oder des Abmischens begegneten. Auf diese Weise entstand ein klanglicher und künstlerischer Hybrid, der dem Thema gerecht wurde, der allerdings auch zu einer merkwürdigen emotionalen Disharmonie führte, zu einem Vakuum, das sich in den Monaten nach Vollendung des Albums zu einem emotionalen Graben vertiefen sollte.
Ich habe viele gute und zahlreiche weniger gute Erinnerungen an die Aufnahmen, und heute – im Jahr 2022 - ziehe ich es vor, mich der positiven Aspekte zu erinnern. Wie auch immer, die Aufnahmen begannen im November 1992 in Basel: Dort entstanden zunächst die Songs Weltschmerz und Der Satyr (nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge), gefolgt von Kriegsvögel im Dezember. Die Arbeit mit Tilo hat mir ausgesprochen gut gefallen, es gab viele höchst amüsante Momente, und unserer Experimentierfreude schienen keine Grenzen gesetzt zu sein.
In der Woche nach Weihnachten nahmen Oswald, Troy und ich in Bayreuth die Songs Süße der Sünden, Lycia I, Lycia II, Sekretkelch und Die Kirche auf. Es entstand überdies eine zweite Version con Der Satyr – dies bewusst mit der Absicht, die unterschiedliche künstlerische Herangehensweise von Oswald und Tilo zu dokumentieren und auf dem Album hörbar zu machen. Leider wurde diese zweite Version von Der Satyr niemals fertig abgemischt, aber ein Rough-Mix ist auf der 30TH ANNIVERSARY EDITION von Lycia enthalten.
Die Aufnahmen in Bayreuth waren bestens vorbereitet, es wurde sehr konzentriert und buchstäblich bis zur völligen Verausgabung gearbeitet, und auch in Bayreuth gab es viele Momente, an die ich mich gern und mit einem Lächeln zurückerinnere.
Innerhalb von nur drei Tagen mischte ich die Bayreuth-Songs ab, und ich war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden. Dennoch war bereits zu diesem Zeitpunkt klar: Oswald, Troy und ich hatten die Grenzen unserer Zusammenarbeit erreicht – emotional, künstlerisch -, und in diesem Tagen gingen Sturm und Drang mit großem Ausrufungszeichen mit uns durch. Wie gesagt: Wir waren jung, und eben erst hatten wir unsere Egos auf Hochglanz poliert...
Die Aufnahmen wurden Ende Januar 1993 in Basel beendet – es entstand sozusagen die Kirsche auf der Torte: mit dem Song Mystische Rosenmadonna (hierfür hatte Tilo auch die Musik geschrieben) wurde dem Album ein wirklich zutiefst berührender Schlussakkord gesetzt. Ursprünglich war vorgesehen, ich sollte den Gesang bei Mystische Rosenmadonna übernehmen, aber ich hatte mir selbst ausdrücklich auferlegt, auf Lycia stimmlich nicht selbst in Erscheinung treten zu wollen.
Lycia wurde schließlich im August 1993 veröffentlicht – und wurde ein ganz erstaunlicher Erfolg, bei der Kritik ebenso wie beim Publikum. Die Gothic-Presse rätselte eifrig darüber, wie ein derart illuster besetztes Album, welches sich überdies so gar nicht mit den Alben von LACRIMOSA und GOETHES ERBEN in Einklang bringen lassen konnte, überhaupt zustande gebracht worden war. Wir, die wir das Album geschrieben und aufgenommen hatten, verhielten uns auffallend still, denn im Sommer 1993 war Lycia für uns alle schon ziemlich weit entfernt, und wir alle waren längst in neue Projekte involviert...
Heute, dreißig Jahre nach den Aufnahmen, mutet es für mich ein wenig seltsam an, die neun Lycia-Songs, welche im Laufe der Jahre zu absoluten Kult-Songs gerieten, nicht nur erneut anzuhören, sondern diese auch zu re-mastern und – in Kombination mit den hübschen Bonus-Tracks – zu einem Album zusammenzustellen, das sich erfreulicherweise gut anfühlt. Wir mögen uns damals, 1993, mehr oder weniger inbrünstig zerstritten haben, wir mögen jeder für sich genommen künstlerisch etwas völlig anderes im Sinn gehabt haben, was bleibt ist jedoch: Wir haben ein einzigartiges, ein beispielhaftes Album aufgenommen, welches Tausende Menschen (buchstäblich!) auf der ganzen Welt tief berührt und bis heute ungebrochen begeistert hat. Ich empfinde Lycia daher als ein Privileg – und als ein Werk, mit dem ich schon vor Jahren meinen Frieden geschlossen habe (und das in manchen Augenblicken sogar richtiggehend lustig zu sein vermag).
Christian Dörge,
- München/Deutschland, im Oktober 2022
The Making Of - LYCIA
Artist: Christian Dörge.
Album title: Lycia.
Format: Album CD.
Recorded from December 1992 to January 1993.
Recording studios: Sonic Delirium Studio, Basel (Switzerland)/
Danse Macabre Studio, Bayreuth (Germany).
Line-up: Christian Dörge (piano, synthesizers, programmings), Oswald Henke (vocals),
Tilo Wolff (vocals, programmings), Troy (guitars, programming),
Kevin Lancashire (programming).
Produced by: Christian Dörge.
Sound engineers: Bruno Kramm, Kevin Lancashire.
Mixed by: Christian Dörge.
Released: August 1993.
Record label: Hall Of Sermon/Deathwish Office/SPV.
Tracks:
1. Introduktion: Süße der Sünden
2. Der Satyr
3. Lycia I
4. Lycia II
5. Die Kirche
6. Weltschmerz
7. Sekretkelch
8. Kriegsvögel
9. Mystische Rosenmadonna
Bonus Tracks 30th ANNIVERSARY EDITION:
10. Der Satyr - Version 2 (Rough Mix)
11. Lycia I (Rough Mix)
12. Secretion Chalice (Rough Mix)
13. Lycia II (Rough Mix)
14. Lycia I (Instrumental Demo)
Since 1992, hardly any German gothic/dark wave album has been written about as much as my second album Lycia, and the amount of simple nonsense that has been (and absurdly still is) published in the relevant press is literally beyond description. This has its origin less in the album itself or even in the album's artistic core, but rather in the equally illustrious and unique line-up. We - that is: Oswald Henke, Tilo Wolff and me - had in common that we were young aspiring artists, we were in our Sturm und Drang phase, so to speak, and it was obvious from the beginning that the recordings for Lycia would become a contest of our egos: the best of all conditions, the worst of all conditions. And for me, at this point in 2022, an opportunity to put things in the right light (according to my perception).
In early 1992 I had recorded my first album Anonymous, and my record company was anything but enthusiastic. »Much too artistic!« they complained. »Nobody wants to hear that except at the Documenta«, they concluded. Naturally, my opinion to my - minimalist, industrial-affine, unpleasantly dark - album differed considerably from what the record company objected to, and so I decided to release Anonymous with through Signum-Verlag, which saved me a lot of discussion and brought me fantastic reviews.
Nevertheless, it was clear: Album No. 2 was to be something completely different; in essence, it had to be a literary setting again, but I wanted to go one step further - I had the idea of writing the new album as a kind of theatre play and having the different roles interpreted by different people. Artistically appealing, humanly a risk.
At that time - in the late summer of 1992 - I was quite intensively involved in the blossoming German (and German-speaking) dark wave and gothic scene (probably also because I wrote for the Kodex magazine, and this magazine had a corresponding thematic focus), and so Tilo Wolff (he had released his second LACRIMOSA album in 1992) and Oswald Henke (who had already released three albums with his project GOETHES ERBEN at that time) came to mind when casting the roles. An obvious choice: both were tailor-made for what I had in mind as a result.
In the following weeks there was a lot of phone talking, and Tilo, Oswald and I agreed to try it together artistically for one album. In addition, I brought guitarist Troy (from the German gothic rock band CATASTROPHE BALLET) on board, a quite excellent musician to whom the album Lycia owes an enormous amount.
I wrote the lyrics - as I recall - for the album in a single evening/a single night in September 1992, and there was something magical about the way Lycia took shape through those lyrics. There was no doubt in my mind that this was an artistically relevant work.
From the beginning it was clear: we would record the album in two recording studios - at Danse Macabre studio in Bayreuth/Germany the songs to which Oswald lent his voice were recorded, at Sonic Delirium studio in Basel/Switzerland Tilo stood at the microphone. As effective and in many ways sensible as this way of working was, it also led to the situation that Tilo and Oswald - who each shaped Lycia in their own outstanding way with their voices - never met at any point during the recording or mixing process. This created a sonic and artistic hybrid that did justice to the subject matter, but also led to a strange emotional disharmony, a vacuum that would deepen into an emotional rift in the months following the album's completion.
I have many good and numerous not so good memories of the recordings, and today - in 2022 - I prefer to remember the positives. Anyway, the recordings began in Basel in November 1992: the songs Weltschmerz and Der Satyr were recorded first (not necessarily in that order), followed by Kriegsvögel in December. I really enjoyed working with Tilo, there were many highly amusing moments, and there seemed to be no limits to our joy of experimentation.
In the week after Christmas, Oswald, Troy and I recorded the songs Süße der Sünden, Lycia I, Lycia II, Sekretkelch and Die Kirche in Bayreuth. A second version of Der Satyr was also recorded - deliberately with the intention of documenting the different artistic approaches of Oswald and Tilo and making them audible on the album. Unfortunately, this second version of Der Satyr was never finished, but a rough mix is included on the 30TH ANNIVERSARY EDITION of Lycia.
The recordings in Bayreuth were very well prepared, there was a lot of concentration and literally working to the point of complete exhaustion, and there were also many moments in Bayreuth that I remember fondly and with a smile.
Within only three days I mixed the Bayreuth songs and I was more than satisfied with the result. Nevertheless, it was already clear at this point: Oswald, Troy and I had reached the limits of our collaboration - emotionally, artistically - and in those days Sturm und Drang got out of hand with a big exclamation mark. As I said, we were young, and we had just polished our egos to a high gloss...
The recordings were finally finished in Basel at the end of January 1993 - the cherry on the cake, so to speak: with the song Mystische Rosenmadonna (for which Tilo had also written the music), a really deeply touching final chord was set for the album. Originally, I was supposed to do the vocals on Mystische Rosenmadonna, but I had explicitly told myself that I didn't want to sing or speak on Lycia.
Lycia was finally released in August 1993 - and became quite an astonishing success, both with the critics and the public. The gothic press puzzled over how such an illustrious album, which could not be reconciled with the albums of LACRIMOSA and GOETHES ERBEN, could have been made at all. We, who had written and recorded the album, were conspicuously silent, because in the summer of 1993 Lycia was already quite far away for all of us, and we were all involved in new projects...
Today, thirty years after the recordings, it seems a bit strange for me not only to listen again to the nine original Lycia songs, which became absolute cult songs over the years, but also to remaster them and - in combination with the nice bonus tracks - to put them together in an album that feels gratifyingly good. We may have fallen out more or less fervently back in 1993, we may have each had something completely different in mind artistically, but what remains is: we recorded a unique, an exemplary album that has deeply touched thousands of people all over the world (literally!) and continues to inspire them to this day. I therefore consider Lycia a privilege - and a work with which I made my peace years ago (and which can even be funny at some moments).
Christian Dörge,
- Munich/Germany, October 2022